Bestatter-ABC: L wie Leichengift

Bild: Enrique Simonet - La autopsia, 1890, Sammlung im Museo del Prado

Sind Leichen giftig? Nein, Leichen sind natürlich nicht “giftig”. Ein “gesunder” Verstorbener ist so giftig, wie ein “gesundes” totes Huhn. Es gibt kein Leichengift. Es entstehen durch den Fäulnisprozess zwar Toxine als Abbauprodukte von Eiweißen (so genannte Alkaloide), ein Kontakt durch Berührung mit diesen Alkaloiden ist allerdings ungefährlich und eine schädliche Wirkung durch Hautkontakt oder Einatmung von “Leichengift” ist daher ausgeschlossen. Lediglich der Verzehr bzw. orale Schmierinfektionen oder Infektionen durch Schnittverletzungen können zu Erkrankungen führen, die allerdings nicht durch Leichengift, sondern durch Bakterientoxine, Alkaloide und mikrobielle Infektionen verursacht werden können.

Der Leichengift-Mythos
Dennoch gilt der Leichnam in vielen Kulturen sofort nach Eintritt des Todes als “unrein” und gefährlich. Im europäischen Raum ist die weltweit verbreitete Idee vom Leichengift vor allem durch zwei pseudo-wissenschaftliche Theorien des 18. Jh. bekräftigt worden:

Die Fäulnistheorie
Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hat man Gerüche – vor allem Fäulnis- und Verwesungsgerüche – für das Entstehen von Krankheiten verantwortlich gemacht. Erst durch die Erfindung des Mikroskops und die Entwicklung der Bakteriologie durch Luis Pasteur um 1880 erkannte man Keime als Krankheitserreger. Im 17. Jh. entwickelte Johann Joachim Becher die so genannte “Fäulnistheorie”. Die Fäulnistheorie war eine Geruchsklassifikation, die dem Arzt bei der Diagnose von Krankheiten helfen sollte. Als besonders gefährlich galten der Fäulnistheorie zufolge die Ausdünstungen Frischverstorbener. 

Die Theorie der “fixen Luft”
Zusammen mit der Fäulnistheorie verstärkte die Theorie der fixen Luft den Leichengift-Mythos und die Geruchsparanoia der Europäer. Chemiker des 18. Jahrhunderts erklärten sich Verwesung durch die Annahme der “fixen Luft”. Sie fragten sich nicht, warum ein toter Körper verwest, sondern, warum ein lebendiger Körper sich nicht zersetzt. Als Erklärung formulierten sie die Hypothese der fixen Luft: Die fixe Luft “fixiert” den lebenden Körper und verhindert so seinen Zerfall. Nach Eintritt des Todes entweicht die “fixe Luft” und führt zur Zersetzung. Die “fixe Luft” galt natürlich als besonders gefährlich.

Leichengift und Kindbettfieber
Zusätzlich glaubte Ignaz Semmelweis (1818-1865), “der Retter der Mütter”, die Ursache des Kindbettfiebers im “Leichengift” erkannt zu haben, das seines Glaubens Medizinstudenten nach der Leichensektion auf Frauen übertrugen, die im Kindbett lagen. Es war damals noch nicht üblich, sich im Umgang mit Leichen und Patienten die Hände zu waschen, da man ja nicht von abwaschbaren Keimen, sondern von Gerüchen als Krankheitsursache ausging. Als vorbeugend und heilend galten daher nicht Hygiene durch Desinfektion und Händewaschen, sondern Wohlgerüche und Parfums, um den üblen und krankmachenden Gerüchen entgegenzuwirken. Wasser kam wegen seiner Geruchsneutralität zur Reinigung nicht in Frage: Ärzte wuschen sich (wenn überhaupt) mit Parfums und Lotionen, niemals aber regelmäßig nach jedem Leichen- oder Patientenkontakt. Von warmen Bädern riet man dringend ab, weil sich dadurch angeblich die Poren der Haut öffnen und die verdorbene Luft in den Körper eindringen kann. Auch wenn Semmelweis unter Vorraussetzung einer falschen Annahme zu einer für die Hygiene wichtigen Entdeckung kam, haben wir es ihm zu verdanken, dass er das Händewaschen als Maßnahme gegen die Übertragung von Krankheiten im medizinisch-pflegerischen Kontext eingeführt hat. Die Existenz des Leichengiftes und die pseudo-wissenschaftlichen Theorien sind heute natürlich längst widerlegt, dennoch ist die Angst vor dem “Leichengift” immer noch spürbar. So wird die Gefahr, die z.B. bei Naturkatastrophen von einem Massenanfall von Leichen ausgeht, weit überschätzt. Aber auch im alltäglichen Umgang mit Verstorbenen schützen sich Laien wie Professionisten im Umgang mit dem sterbenden Patienten weniger und treffen nach Eintritt des Todes plötzlich oft mehr Schutzvorkehrungen. Angehörigen von infektiösen Verstorbenen wird der Abschied am offenen Sarg per Gesetz grundsätzlich untersagt, auch wenn sie den Verstorbenen bis zu seinem Tod gepflegt haben. Natürlich gilt es, bei der Versorgung eines Verstorbenen Schutzbekleidung zu tragen, als wäre der Leichnam infektiös, weil man ja nie weiß, mit welchen Krankheitserregern ein Körper besiedelt ist und da man bei der Versorgung mit Ausscheidungen und Sekreten in Kontakt kommt. Grundsätzlich ist aber jeder lebendige Mensch, dem ich im Alltag begegne, dem ich vielleicht im Bus, wenns eng wird, näher komme als mir lieb ist, potentiell gefährlicher als ein toter Körper, der bewegungslos vor mir liegt, der nicht mehr atmet und den ich aufgrund seiner Leblosigkeit leicht kontrolieren kann. 

Dr. Christine Pernlochner-Kügler

Literatur

Pernlochner-Kügler, Ch.: Körperscham und Ekel - wesentlich menschliche Gefühle

Pernlochner-Kügler, Ch.: Ekel und Scham bei der Arbeit mit dem menschlichen Körper

Pernlochner-Kügler, Ch.: Du lebst nur einmal, sterben kannst du jeden Tag. Eine Bestatterin erzählt.

 

Die I. Neumair Bestattung und mehr GmbH ist Ihr Tiroler Ansprechpartner für traditionelle Bestattungen und moderne Verstorbenenversorgung (Thanatopraxie), Trauerfeier- lichkeiten, Trauerbegleitung und Seminare mit Sitz in Innsbruck.

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.