Von Menschenfressern, Fleischkäs-Leichen und Toten-Broten

Die Projektgruppe „Amie – Freundin der Kunst“ veranstaltete bei einem Themenwochenende „Kingdom of darkness – Geister, Tote, Wiedergänger“ im Oktober 2008 im Künstlerhaus brut einen Leichenschmaus, bei dem sie das Wort mal ganz wörtlich nehmen wollte. Ein mannsgroßer Leichnam aus Fleischkäse im schwarzen Anzug wurde zubereitet und wenn man Sakko und Hemd öffnete fand man den Kartoffelsalat. Den Gästen wurde der in Scheiben geschnittenen Tote dann auf Papptellern mit dem aus dem Torso geschöpften Kartoffelsalat serviert – wahlweise war oder kalt. Mahlzeit! (Hier geht’s zum Filmdokument des Projektes https://www.youtube.com/watch?v=Oeu52d6QBgE).

Recherchiert man die Herkunft und Tradition des Leichenschmauses, so wird er als Übergangsritual beschrieben, das es nach Beerdigungen als weltweites Phänomen gibt. Das gemeinsame Essen und Trinken war einerseits nötig, um der angereisten Verwandtschaft vor ihrem Aufbruch zur Heimreise eine Zehrung zu bieten, andererseits ging es auch früher schon um das gemeinsame Gedenken des Verstorbenen als auch darum, dass die Trauernden bei Speis und Trank wieder ins Leben hineinfinden konnten.

Neben den bei uns gängigen Begriffen „Totenmahl“ oder „Leichenschmaus“ heißt es je nach Region noch: Leichenzehrung, Leichenbissen, Totenverspeisen, Hautverzehren, Fellvertrinken, Eindaichteln, Gschotter, Traueressen, Leichentrunk, Leichenimms, Reuessen, Kremess, Totenschmaus, Beerdigungskaffee, Flannerts, Leidessen, Raue, Trauerbrot, Tränenbrot, Tröster, Trauermahlzeit, Pitschen, Mahlile, Seelmahl, Totenhochzeit …, um nur einige zu nennen. Die meisten Begriffe verbinden die Emotion der Trauer oder die Leiche selbst mit dem Mahl-Begriff. Wenn beim „Leidvertrinken“ in Rostock die „Hülgrütte“ - die Heulgrütze - gegessen wurde, dann zeugen diese Begriffe von der Vorstellung, dass mit dem Verspeisen der Grütze oder Suppe auch die Trauer verarbeitet wird. Woher aber kommen die Begriffe Totenmahl, Leichenschmaus, Leichenzehrung und Leichenbissen? Warum nennt man es in Neapel „mangiar i morti“? Wurden früher tatsächlich Tote selbst verspeist? Vieles spricht jedenfalls dafür.

Tatsächlich wurden in vielen Kulturen Verstorbene durch die Überlebenden im Rahmen eines Opfer- oder Gedächtnisrituals gegessen. All die genannten Bezeichnungen unseres Sprachgebrauchs weisen darauf hin, dass das gemeinsame Gedächtnismahl auch bei uns einst die Funktion hatte, die leibliche wie die geistige Eigenart des Verstorbenen in sich aufzunehmen. Durch das Einverleiben des Leichnams blieb der Tote Teil der Gemeinschaft und die durch seinen Tod entstandene Unordnung wurde wieder behoben.

Beim Exo-Kannibalismus, bei dem der Feind verspeist wurde, um sich dessen Stärke anzueignen, wie zum Beispiel bei den Maori, konnte gleichzeitig auch die eigene Angst verarbeitet werden, selbst von einem potenteren Feind einverleibt zu werden. Beim Endo-Kannibalismus wurden die eigenen toten Verwandten rituell verspeist, entweder um die Lebenskraft der Verstorbenen an die Gemeinschaft weiterzugeben oder um zu verhindern, dass Verstorbene als böse Geister wiederkehren können. Dabei wird meist nach der Verbrennung die Asche in ein Bananengetränk oder einen Brei gemischt und konsumiert. Die Wari’ (auch Pakaa Nova genannt) im Amazonasgebiet verspeisten ihre toten Freunde aus Respekt und aus Anteilnahme den Angehörigen gegenüber noch bis in die 1950er Jahre hinein. Forschungsexpeditionen berichteten darüber, worauf dieser Bestattungsritus verboten wurde, was für die Wari' traumatisch war. Die Vorstellung von Freunden gegessen zu werden, ist für sie viel angenehmer als die Vorstellung in einem kalten Grab zu verwesen.Die Blutsverwandten aßen übrigens nichts von ihren Verstorbenen, es war vielmehr die Pflicht der Freunde und der angeheirateten Verwandtschaft. Der Verzehr der Leiche der Eltern durch die Kinder spielt beim Volk der Hua in Neuguinea heute noch eine Rolle. Die Hua glauben, dass dadurch die Lebenskraft „nu“ an die nachfolgende Generation übergeben wird. Wird der Leichnam nicht gegessen, geht „nu“ verloren, was zur Folge hätte, dass die Ernte, die Haustiere und die Kinder nicht gedeihen können.

Kann man tatsächlich von unserem Wortschatz auf die ursprüngliche Bedeutung der Opferung und die archaische Ritualik des Kannibalismus schließen? Es scheint so. Notker schreibt im 9. Jh. n. Chr. (das ist gar nicht mal sooo lange her!) über „die Wenden“, die slawischen Bewohner von Gebieten entlang und östlich der Elbe, „dass die Nachfahren, sich nicht schämen zu sagen, mehr Recht dazu zu haben, ihre Eltern zu essen als die Würmer“. (Aber Weletabi, die in Germania sizzent, tie wir Wilze heizen, die ne scament sih nicht ze chedenne, daz sie iro parentes mit meren rehte ezen sulin, danne die Wurm.) (J. Grimm, nach Freybe: Rechtsaltertümer, 488)

Totenbräuche, bei denen Mahlzeiten eine wichtige rituelle Rolle spielten, gab es nachweislich schon in der Steinzeit. Der direkte Verzehr wurde mit der Zeit durch den symbolischen Verzehr von Speisen ersetzt, wie wir es aus dem Gottesdienst im christlichen Ritus kennen, wo Brot und Wein als Symbole von Leib und Blut mit den Worten „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ verzehrt werden. Brot als herzhaftes oder süßes Gebäck spielte im Zusammenhang mit rituellen Trauermahlzeiten lange Zeit die Hauptrolle. Ein alt-österreichischer Brauch war das Verteilen von Toten- oder Konduktsemmeln als „Zehrung“ an die Trauergäste im Anschluss an das Begräbnis. Die Totensemmel war mit Mohn, Anis oder Kümmel und Salz bestreut, was bösen Zauber abwehren sollte. In Deutschland kennt man den Allerheiligenstriezel, den Seelzopf, die Seelwecke, den Seelspitzel oder- kipf, ein meist süßes, überzuckertes Weißbrot oder Milchbrot. In manchen Gegenden erinnert das Gebäck an Beine, Schenkel oder Knochen wie im Engadin und in Graubünden die Totenbeinli (kipferlförmige kleine Mandelbrote), in Hessen-Darmstadt die Bubenschenkel und in Italien nennt man die Mandelkipferl „meini“, „pane“ oder „biscotti dei morti“. In Ostfriesland kennt man das Stutenbrot und von den Niederlanden bis Schleswig, Köln und Halle „die Stuite“, was sich aus dem Niederdeutschen „stût“ (= der Oberschenkel) herleitet. Im viktorianischen England entwickelte man eine verfeinerte Form – man begann „funeral-biscuits“ (Beerdigungskekse) oder „mourning cookies“ (Trauerkekse) zu verteilen. Das waren Kekse, die mit sepulkralen Symbolen, wie Kreuzen, Totenköpfen, Särgen, Krähen oder Palmzweigen verziert und einzeln in Wachspapier verpackt waren. Die Tradition der funeral biscuits hatte noch im 1. Weltkrieg Bedeutung und verschwand dann langsam. In meiner Jugend gab es in den Konditoreien „Liebesknochen“, ein üppig mit Puddingcreme gefülltes Eclaire-Gebäck, das ich zu meinem großen Vergnügen bei meinen Ostseeurlauben wieder entdeckte. Dass das Totengebäck Bezüge zur Seele oder zu Körperteilen aufweist, ist weit verbreitet. Woher kommen diese makabren Bezeichnungen? Im Mittelalter war es Brauch, dass die Frauen Hefeteig zubereiteten und dann „zum Gehen“ auf den Toten legten. Das Brot sollte Eigenschaften des Verstorbenen aufnehmen, welche an die Hinterbliebenen übergehen, wenn sie die Brote anschließend aßen. Irgendwann war man also dazu übergegangen, nicht mehr die Verstorbenen selbst, sondern einen symbolischen Ersatz zu konsumieren. All diese verschiedenen Brotgaben wurden entweder im Trauerhaus, wo der Leichnam aufgebahrt lag, an die Trauergäste verteilt oder im Rahmen eines einfachen Mahles nach dem Begräbnis verspeist. Eine große Bedeutung spielte der Brauch später auch in christlichen Traditionen im Zusammenhang mit der Reinigung von Sünden: In manchen Gegenden in England und Irland war man der Meinung, dass Brot und Salz vor allem die Sünden des Verstorbenen aufnehmen können. Die Ärmsten der Gegend wurden dann als „sin-eater“ ins Trauerhaus bestellt. Sie bekamen das Brot und somit Nahrung, übernahmen dadurch aber auch die Sünden der Verstorbenen, denen so der Weg in den Himmel geebnet wurde. Die Sin-Eater waren, wie man unschwer erraten kann, „arme Teufel“, die vom Rest der Gesellschaft geächtet und anschließend an das Ritual oft geschlagen und misshandelt wurden. Nachdem der Sin-Eater schließlich verjagt wurde, verteilten Familienangehörige „saubere“ Stücke Brot oder Kuchen an die Trauergäste, die mit Bier runtergespült wurden.

Die Kirche hatte seit jeher ein ambivalentes Verhältnis zum Leichenschmaus, so wie er im Volk üblich war, denn er war ja ein heidnisches Relikt. Deshalb war der Priester ursprünglich verpflichtet, am Leichenschmaus teilzunehmen und das Mahl einzusegnen. Beim Leichenschmaus sollten liturgische Lieder gesungen und wenig gesprochen werden. Es gab Bier, Met oder auch je nach Region Wein, später - vor allem in protestantischen Regionen – oft auch nur Kaffee, um zu verhindern, dass das „Fellversaufen“ (Fell war die ursprüngliche Bezeichnung für die menschliche Haut) allzu sehr ausuferte: Wie bei allen ursprünglichen germanischen Opfermahlen, durfte auch beim Leichenschmaus nichts übrig bleiben. Alles musste „veressen“ und „vertrunken“ werden, denn man glaubte, dass auch der Tote sich freue, wenn die Hinterbliebenen nicht im Schmerz verharren und wieder fröhlich wurden. Von den ursprünglich einfachen Fastenspeisen, bei denen nach germanischem Ritus drei Becher gereicht wurden (Gedächtnisbecher, Gelübdebecher und Erbtrunk), entwickelten sich die Totenmahle zu üppigeren Mahlzeiten, die mitunter auch repräsentative Funktion hatten und nicht selten wurde es laut und lustig, weil es eben nicht bei wenigen Bechern blieb. Versuche der Kirche, das Totenmahl zu verbieten, scheiterten jedoch, zu stark war die psychologische und soziale Funktion und außerdem musste angereiste Verwandtschaft vor der Abreise schließlich auch verpflegt werden: „Als überragender Klassiker – und dies gilt besonders auch für Wien – punktet Rindfleisch (oft Tafelspitz) mit Semmelkren. Im weiteren Angebot: Schweinsbraten mit Knödel, Würstel (Frankfurter), Rindfleischsuppe mit Nudeln und geschnittenen Würstchen, Saure Suppe mit Rindfleisch und Semmel, Bratwurst mit Sauerkraut und Gerösteten, ‚Konduktsemmel‘ (extragroß mit Anisgeschmack). Heute: Gulasch mit Semmel / Schwarzbrot, Wiener Schnitzel oder sogar McDonalds Food. Getränke neben antialkoholischen allgemein: Wein (rot) und Bier. Auch die wichtigen “Herztropfen” für den Abschied, das klare Schnapserl, dürfen teils nicht fehlen. (Keller, 2007)

Fazit: Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen und hellt die Emotionen auf. Das war schon immer so und gilt bis heute. Und: Lasst es euch auf der Zunge zergehen: Wir alle sind Krypto-Kannibal:innen. Prost, Mahlzeit!

Eure Christine Pernlochner-Kügler

 

Foto: Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=Oeu52d6QBgE  Projektgruppe „Amie – Freundin der Kunst“ im Rahmen des Themenwochenendes „Kingdom of darkness – Geister, Tote, Wiedergänger“ im Oktober 2008 im Künstlerhaus brut.

Quellen:

Conklin, B. A.: Consuming grief - Compassionate Cannibalsim in an amazonian Society. Univ. of Texas Press, 2001

Freybe, A.: Das alte deutsche Leichenmahl in seiner Art und Entartung. Bertelsmann, Gütersloh 1909.

Keller, W.: Der Leichenschmaus’ in: 100 Jahre Bestattung Wien. 100 Jahre für die Ewigkeit, Schmid Verlag, Wien, 2007.

Pernlochner-Kügler, Ch.: Du stirbst nur einmal, leben kannst du jeden Tag. Goldegg, Wien/Berlin 2021.

Wilke, Gerhard: The dead are alive in the group and community - a response. In: Group analysis, Volume 53 Issue 3, September 2020

Amie – Freundin der Kunst: www.liebedeinenfeind.com/media/Leichenschmaus_beilage.pdf 

Pernlochner-Kügler: Rinderwahn https://aspetos.com/de/post/rinderwahn-1-satire-zum-leichenschmaus/639

Pernlochner-Kügler: Dead-body-snack https://aspetos.com/de/post/ndead-body-snack-2-satire-zum-leichenschmaus/643

Pernlochner-Kügler: Der Leichenschmaus https://aspetos.com/de/post/der-leichenschmaus-jetzt-aber-ernsthaft/644

https://de.wikipedia.org/wiki/Leichenschmaus

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